Steine
Raus aufs Meer. Die Ostsee hat zwölf Grad,bei warmer Luft und klarem Himmel. Liv hat sich in den Neoprenanzug gezwängt und verspürt Vorfreude,Aaron an ihrer Seite blickt hingegen skeptisch auf die Brandung. Kräftiger Wind aus Südwest beschert dem Strand bei Westermakelsdorf passable Wellen,bis zu drei Meter nach Livs Schätzung. Das Wasser ist voller Licht, blaugrün, fast türkis, als lägen auf dem Grund Juwelen verstreut. Champagnergischt. Die See, eine Schatzkammer.
»Ist das nichts?«, fragt sie und erhält keine Antwort.
Der Junge umklammert sein Board wie ein schüchternes Kleinkind die Beine der Mutter. Dünn ist er, hat den Böen nicht viel entgegenzusetzen.
»Bist du sicher, dass du Surfen kannst?« Sie hat ihn beim Frühstück gefragt, da kam sein Ja zwar leise und zögerlich, aber es kam. Jetzt Schulterzucken.
»Wellenreiten ist nicht so mein Ding«, ruft er und wirft das Brett auf den Boden. »Ich glaube, ich hab doch keinen Bock. Überall Steine. Ich gehe lieber angeln.«
»Wie du meinst«, sagt Liv, bemüht , sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihn für einen Schisser hält. Offenbar ohne Erfolg, denn während sie durch die Brandung watet, bleibt das Kind breitbeinig im Sand stehen und wirft Steine ins Meer. Manche kommen ihr so nah, dass es kein Zufall sein kann.
Im Wasser Schwärme aus schwarz glänzendem Neopren: Wellenreiter, Wind- und Kitesurfer. Jeder will die besten Wogen für sich. Sie schwimmt weit raus, gibt sich ganz und gar dem Element hin, frohlockt, als die Strömung sie erfasst und von der Küste fortzieht bis zu einer Sandbank mit eigener Brandung, für sie ganz allein. Endlich. In weiter Ferne am Horizont das Rot eines Fährschiffes. Liv paddelt und richtet sich auf, steht, surft, jubelt, jawohl, sie kann es noch. Tatsächlich: Sie lebt.
Am Abend legt sich der Wind, und es ist mild genug für ein Lagerfeuer am steinigen Strand. Aaron sieht aus, als wisse er nicht genau, ob es ihm peinlich ist,mit seiner Mutter hier zu sein, oder ob er Gefallen an der Sache findet. Er hat für die Verpflegung gesorgt: Coca-Cola und Sprotten am Spieß, selbstgeangelt. Liv ist kaum in der Lage, die Flasche zu halten, so geschwächt sind ihre Arme nach dem Kampf mit der Ostsee. Der Weg mit dem Surfboard zurück ans Ufer war hart, am Schluss wurde es regelrecht brenzlig.
Aaron mustert sie. »Du bist ja ganz schön fertig.«
»Geht so.«
»Machst du immer so gefährliche Sachen?« Sie zuckt mit den Schultern. »Manchmal. Und du?« »Ich bin ein vorsichtiger Mensch«, sagt er, ohne sie anzusehen. »Wahrscheinlich komme ich mehr nach Papa.« Der Lichtkegel des nahen Leuchtturms, der Schiffe vor Untiefen warnt, streift sein junges Gesicht.
Liv findet, er ist eine ziemlich gelungene Mischung aus ihnen beiden.All die schlechten Eigenschaften, die sowohl sie als auch ihren Exmann auszeichnen, sind scheinbar nicht auf ihn übergegangen. Was für ein Glückspilz.
»Warum wolltest du eigentlich so plötzlich bei mir wohnen?« Die Frage lag ihr schon oft auf der Zunge, aber bislang hat sie nicht gewagt, sie zu stellen.
»Weil ich es unfair fand, dass Papa dir keine Chance gelassen hat.«
»Inwiefern?«
»Na ja, er hat mich dir einfach weggenommen, eine neue Familie gegründet und die ganze Zeit behauptet, du wärst keine richtige Mutter. Das fand ich unfair. Nachdem ich angefangen hatte, darüber nachzudenken.«
Liv starrt ihren Sohn an, als würde sie ihn gerade zum ersten Mal sehen, und so fühlt sie sich auch. Sie hat die Situation völlig falsch eingeschätzt, dachte, es ginge ihm lediglich darum, die strengen Regeln zu umgehen, die sein Vater daheim für ihn aufgestellt hatte. Stattdessen wollte er ihr gegenüber gerecht sein. Aarons Bekenntnis macht sie rührselig, und sie kippt ihre Cola, den Blick auf die schwarze Unendlichkeit des Meeres gerichtet, damit er nichts davon mitbekommt, und sehnt sich nach einem Bier. Die Brandung hat nachgelassen, die Wellen plätschern jetzt gemächlich an den Strand. Sie wünschte, es wäre so einfach, ihr Schuldgefühl abzuschütteln, indem sie fortan Janko die Schuld für ihr Versagen als Mutter gibt. Sicher, er hat ihr den Jungen vorenthalten.Aber sie hat nichts dagegen unternommen. Und so schwach, wie sie sich in diesem Augenblick fühlt, ist sie nie gewesen.
»Bist du in Ordnung?«, fragt er.
Liv nickt. »Dein Vater und ich, wir haben es beide vermasselt.«
»Ist mir schon klar.«
Er holt die Sprotten aus den Flammen, sie sind schon ziemlich verkohlt und schmecken perfekt.Alles ist perfekt. Der Feuerschein, das Wispern der schläfrigen Ostsee. Hin und wieder Flugzeuge hoch über ihren Köpfen.
»Du bist ein kluger Junge,Aaron«, sagt Liv und fügt mit einem Grinsen hinzu: »Du wirst es noch mal schwer haben im Leben.«
Livs Theorie über Tönges: Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres erhält er Post von seiner verschollenen Schwester, die es nach Island verschlagen hat, wovon er nichts ahnte. Er liest den Brief, ein dickes Paket Papier, viele handgeschriebene Seiten, und wirft ihn – vor den Augen von Livs Cousine Tessa, so viel ist sicher – direkt ins Kaminofenfeuer, ohne ein Wort über den Inhalt zu verlieren. Liv ist überzeugt: Nach all den Jahren des Vermissens kann er nicht mehr und will auch nicht. Es ist zu spät. Inga ist für ihn gestorben, daran ist nicht zu rütteln. So weit sein Plan.
Bis sich das ebenso fade wie geregelte Leben des Tönges Engel entscheidend verändert, und zwar ohne sein Zutun: Henny will die Scheidung, präsentiert ihm frech seinen Nachfolger an ihrer Seite, woraufhin er sich an Inga erinnert, an Island und daran, wie sehr er sie geliebt hat, als sie Kinder waren. Also bricht er auf, um sie wiederzusehen. Spontan, ungeplant und ohne irgendjemandem ein Sterbenswörtchen zu verraten. Heißt also: Wer Inga sucht, wird Tönges finden. Deshalb sind Livs Flugtickets für Montag bereits gebucht.
Zuvor das Wochenende auf Fehmarn, auch, aber nicht nur, um etwas Zeit mit Aaron zu verbringen, bevor sie ihm klarmacht, dass er für eine Weile zu seinem Vater zurückmuss. Sie baut auf sein Verständnis, wenn sie ihn einweiht.
Der andere Grund für den Ausflug auf die Insel ist der Umstand, dass Tönges und Inga nach dem Tod der Eltern im Luftangriff auf Lübeck 1942 einige Jahre bei einer Großtante gelebt haben, und zwar in genau dem Haus, das heute Liv gehört. Eine glückliche Fügung insofern, als sie von weiteren Schrecken des Krieges verschont blieben. Nach dem Volksschulabschluss, den sie trotz des einjährigen Altersunterschieds beide 1944 auf der Inselschule absolvierten, arbeiteten sie zunächst auf Fehmarn: sie in einer Fischfabrik,er auf einem Kutter. Nach dem Krieg gingen sie zusammen zurück nach Lübeck, weil Tönges, technisch versiert, eine Lehrstelle als Elektroniker in Aussicht hatte.All das hat Liv am Vortag in einem Gartenzaungespräch mit einer achtzigjährigen Nachbarin herausgefunden. Genau wie Henny kam die alte Frau schnell auf die Verbundenheit zwischen den Geschwistern zu sprechen, »über das natürliche Maß hinaus«.Liv weiß nicht, was sie davon halten soll. Immerhin untermauert es ihre bisherigen Erkenntnisse über Tönges. Zu mehr taugte die Nachbarin nicht: lauter Fragen, keine Antworten.
Leider hat sich zudem die Hoffnung zerschlagen, irgendwo in der mehr als hundert Jahre alten Backsteinkate würden Rückstände aus Ingas und Tönges' Jugendjahren zu finden sein, Briefe, Fotos, Tagebücher, irgendetwas. Zwar steht im Kartoffelkeller ein Koffer, der aus der Vorkriegszeit stammen könnte, aber der ist leer bis auf ein paar Steine vom Ostseestrand. Beim Einsatz des Kammerjägers im letzten Jahr muss vieles weggekommen sein, denn einst war der Keller voller Gerümpel. Liv hatte dem Mann freie Hand gelassen. Wie hätte sie ahnen sollen, dass das verstaubte Zeug jemals von Nutzen sein könnte?
Ansonsten Freizeit, nahezu unbeschwert. Liv trinkt so viel Cola wie seit ihrer Kindheit nicht, sie ist regelrecht berauscht von dem vielen Zucker. Die Unterhaltung mit Aaron über ihre bevorstehende Islandreise will sich das gesamte Wochenende nicht einstellen.
Als sie am Sonntagabend kurz vor der Rückfahrt nach Lübeck ihre Taschen in den Kofferraum laden, wackelt die greise Nachbarin in Kittelschürze herbei und drückt Liv, vom kurzen Weg ganz außer Atem, eine Schwarzweißaufnahme in die Hand. Darauf zu sehen: eine Schulklasse – bestimmt vierzig junge Leute.
»Inga und Tönges habe ich markiert«, sagt die Alte und deutet auf zwei mit Kugelschreiber umrandete Köpfe, die genau so aussehen wie die anderen Köpfe auf dem Bild, wie überhaupt Köpfe auf solchen Bildern: große Augen, hagere Gesichter, die Mädchen tragen Zöpfe, die Jungen Fassonschnitt. Unmöglich, jemanden darauf zu erkennen, sie hätte nicht einmal Tönges ausmachen können.
»Das können Sie gern behalten, Frau Engel.«
Liv bedankt sich.
Fünf Minuten später im Auto fragt Aaron erwartungsgemäß: »Was willst du mit dem Bild?«
So erfährt er endlich von dem Vorhaben seiner Mutter. Die Konsequenzen für ihn, Rückkehr ins Bürgerliche zu Eltern und Halbgeschwistern, findet der Junge alles andere als berauschend, und das lässt er sie spüren. Liv schluckt seine schlechte Laune wie etwas, das sie bestellt und bereits bezahlt hat. Sie wird noch mehr zahlen müssen.Am Ende, das steht zumindest zu befürchten, werden sie wieder da sein, wo sie angefangen haben: Die mieseste Mutter auf Erden kauft sich frei. Und diesmal dürfte es für Liv richtig teuer werden.
Kofferpacken für Island. Die Skizzen von Inga müssen mit und ein Foto von Tönges. Aber welche Kleidung ist angemessen? Viel weiß sie nicht über die Insel im Atlantik, die ganze Region ist für sie irgendwie Nordpol. Sie hat einen Reiseführer gekauft und noch nicht gelesen, der Blick auf die Temperaturtabelle im Informationsteil besagt: Es könnte mit viel Glück recht warm werden, bis zu fünfzehn Grad im Mai, die Durchschnittstemperatur liegt bei zehn. Auch möglich, vor allem im Norden: Schneestürme, drastische Temperaturstürze inbegriffen.
Aaron steht in der Tür. »Du willst da wirklich hin, um den Alten zu suchen?« »Ja.«
»Oder hat es was mit mir zu tun, dass du jetzt abhaust?«
»Wieso sollte es? Außerdem haue ich nicht ab. Du weißt, wo ich bin, und du kannst mich anrufen, falls dir danach zumute sein sollte, was ich nicht annehme.«
»Hast du keinen Bock mehr auf mich?«
Sie dreht sich zu ihm um und unterdrückt den Impuls, ihn in die Arme zu schließen. »Aaron, ich habe gerade total Bock auf dich. Und ich würde mich freuen, wenn du wieder bei mir einziehst, sobald ich zurück bin.«
»Kannst du vergessen«, erwidert er, den Anflug eines Lächelns im Gesicht.
Später, der Junge ist längst im Bett, checkt Liv zum letzten Mal ihre Sachen für die Reise und fügt dem Handgepäck, einer Eingebung folgend, noch etwas hinzu: Tönges' Laguiole-Messer, das Geschenk seiner Schwester. Sie hat es zwischendurch völlig vergessen und fragt sich jetzt, da es ihr wieder begegnet ist, ob es Zufall gewesen sein kann, dass ihr Großvater es ihr wenige Monate vor seinem Verschwinden vermacht hat. Sollte er am Ende alles von langer Hand geplant haben?
Der Tod ist immer eine gute Entschuldigung. Für alles. Ein Freibrief für Unzuverlässigkeit und schlechtes Benehmen. Wer zum Beispiel einen Todesfall in der Familie erwähnt, wird überall auf Verständnis stoßen. Und stirbt man erst selbst, schlucken sogar Erzfeinde die üble Nachrede hinunter, weil es sich nun einmal so gehört, und raspeln fortan Süßholz oder halten den Mund.
Als sie diese Überlegungen anstellt, ist Fritzi nicht sicher, ob sie gerade kurz davor ist, die Schwelle zu überschreiten. Sie stemmt sich dagegen, denn sie ist noch längst nicht bereit, nicht jetzt und nicht so. Das Krankenlager im Schlafzimmer, seit Tagen ein Gefängnis, soll nicht ihr Sterbebett werden. Wenn es so weit ist, das hat sie sich vorgenommen, will sie in die Lava gehen. Und im Augenblick schafft sie es ja kaum bis ins Badezimmer. Außer dem leidigen Hüftschaden hat sie Fieber, Schüttelfrost und Husten, sie ernährt sich von Butterkeksen auf dem Nachttisch,welch ein Glück, dass sie diese schlechte Angewohnheit des Naschens nach dem Zähneputzen nie ablegen konnte, deshalb die Kekse, sämtliche andere Vorräte befinden sich im Erdgeschoss und sind unerreichbar. Ebenso das Telefon.
Gevatter Tod also. Während sich der Schnee vor ihrem Fenster wieder in Regen verwandelt hat und unten vermutlich die Diele unter Wasser steht, hält sie den Schnitter in Schach, allein durch ihre furchtlosen Gedanken an ihn.
Fritzi und der Tod: Zuerst kennt sie ihn nur vom Hörensagen. Als Ausrede der eigenen Mutter für die Gemeinheiten des Vaters, die Prügel, die Ungerechtigkeiten, seinen Sadismus. »Du musst verstehen. Dein Vater hat es immer schwer gehabt als Kind.Alle seine Geschwister sind gestorben, so arm war seine Familie,und da konnte seine Mutter ihn auch nicht mehr lieb haben, und das hat sie ihn spüren lassen. Du musst verstehen.«
Nichts versteht sie. Zu diesem Zeitpunkt.
Dann ihr erstes Aufeinandertreffen. Passenderweise auf der Beerdigung ihrer Großmutter väterlicherseits, der Frau mit den vielen toten Kindern. Sie liegt im geöffneten Sarg, die böse Alte, die Haut glänzt wächsern, und ihr Gesicht sieht so lieb aus,wie es bei Erwachsenen nur sehr selten der Fall ist. Diese Frau soll der Ursprung des Hasses in ihrer Familie gewesen sein? Kaum zu glauben. Da versteht sie ihren Vater noch weniger.
Was sie nie verzeihen wird: das Sterben der eigenen Söhne. Einar im Meer. Kristján in der Wiege. Und Atlí in ihren Armen. Der Vater des Enkels.
Es passiert in der Nacht, als sein Sohn zur Welt kommt. Atlí ist zu Besuch auf Bjarg, frisch verheiratet, seine Frau daheim in der Stadt ist schwanger, neunter Monat, drei Wochen vor dem Stichtag. Der Anruf aus dem Kreißsaal kommt überraschend, aber gelegen,Atlí ist ruck, zuck in Hochstimmung.
»Ich fahre sofort in die Klinik. Und du kommst mit.«
Es ist März und dunkel. Schnee in den Bergen, Eis auf den Straßen. Zwei Wege führen in die Stadt, beide ungefähr gleichlang: Der eine führt die Küste entlang, der zweite über den Pass am Bergsee vorbei. Die reinste Spukhölle. Dafür entscheidet sich Atlí.
»Warum nimmst du nicht die andere Strecke? Die Uferpiste ist doch viel schlechter.«
»Ich will einen Stein in den See werfen. Das bringt Glück. Ich fahre eben ein bisschen langsamer. So viel Zeit muss sein.«
Sie stöhnt auf. Steine in den See werfen, das wollte er schon als kleiner Junge ständig. Er liebt diesen von Bergen umschlossenen Ort mit seinem dunkelblauen Wasser.
Fritzi glaubt nicht, dass es Glück bringt, Steine in den See zu werfen, sie hat eine eigene Theorie über die Gegend. »In Frostnächten ist die Straße gefährlich. Es gab schon so viele Unfälle.«
Er deutet in den Himmel. »Wir haben Vollmond. Es ist taghell. Wenn die Straße vereist ist, werde ich es sehen.«
»Und was ist mit dem Braunen? Geisterlieben den Vollmond. Es ist nicht nur meine Meinung, dass der Móri sich mit Vorliebe dort am See aufhält, besonders nachts, besonders wenn es friert. Bjarney meint auch: Die vielen schweren Unglücke gehen auf seine Rechnung.«
Schallendes Gelächter. »Soso, Bjarney meint das auch? Was für eine Überraschung. Du und deine verrückte Freundin, wann hört ihr zwei endlich auf mit diesem Aberglauben? Dass ihr mir ja meinen Sohn nicht damit erschreckt. Keine Gutenachtgeschichten, in denen der Braune mitspielt. Damit das von Anfang an klar ist.«
»Und deine Steinewerferei? Ist das etwa kein Aberglaube?«
»Das ist etwas völlig anderes. Empirische Forschung in eigener Sache. Bis jetzt hat es jedes Mal geklappt mit dem Glück. Überall auf dem Seegrund liegen meine Glückssteine, und heute kommt noch einer dazu.«
Sie erreichen den See. Das Ufer ist vereist. Atlí dreht mit dem Jeep eine Runde auf dem breiten Strand aus Kies und Geröll und parkt direkt am Ufer, wo er aussteigt. Fritzi bleibt zunächst sitzen, damit es schneller geht,erst sein Winken bringt sie dazu, ihm zu folgen. Widerwillig. Kein Wind geht, es ist nichts zu hören außer dem Ächzen von Eisschollen, die aneinanderreiben. Das Wasser ist in Bewegung, der See friert selten komplett zu, da er unterirdisch von warmen Quellen gespeist wird. Sterne leuchten.Im Mondlicht wirkt das Eis trüb. Im Hintergrund: aus Lava geformte Klippen wie Messerspitzen.
Atlí gibt sich Mühe, den richtigen Stein zu finden, hebt einige auf, um sie sogleich wieder fallen zu lassen.Als er sich bei einem sicher ist, zeigt er ihn der Mutter, bevor er zu einem weiten Wurf ausholt. Ein schwerer schwarzer Stein. Kreisrund. Im Flug verliert sie ihn aus den Augen. Dem Geräusch nach fällt er nicht ins Wasser und versinkt, sondern landet auf Eis, schlittert und bleibt liegen. Fritzi hat ein komisches Gefühl im Magen: als wäre in ihr ein Gefäß mit einer sehr kalten Flüssigkeit explodiert, welche sich nun über die Blutbahnen in ihrem ganzen Körper ausbreitet.
Atlís Blick verschattet. »Wirf du auch einen«, fordert er sie auf.
Fritzi lehnt ab.
Zurück im Auto dreht er das Radio auf: harte amerikanische Rockmusik mit dröhnenden Bässen, die Gitarren und Stimmen ein einziger Schrei.
Atlí, Gitarrist einer Band mit ähnlichen Liedern in isländischer Sprache, nickt im Takt mit, sodass dicke Strähnen seiner rotblonden Zotteln sich aus dem Zopf lösen und ihm ins Gesicht fallen. Die Finger trommeln unrhythmisch auf dem Lenkrad herum. »Du«, ruft er, »ich glaube, mit Kind, das wird toll.«
»Bestimmt. Schau auf die Straße.« Sie beugt sich vor und stellt das Radio leiser.
Er protestiert, lässt aber beide Hände am Steuer. Plötzlich schwillt die Musik wieder an.
»Was ist das denn?« Die kalte Flüssigkeit aus dem Magen erreicht ihre Stirn.
»Besserer Empfang, die Stadt kommt näher. Oder...«, er verstellt seine Stimme zu einem tiefen Gemurmel, »... der Móri spielt uns einen Streich.«
»Lass das. Fordere ihn nicht heraus.«
Atlí lacht.
»Sei still.«
Aufgekratzt wie ein Halbwüchsiger nach dem ersten Besäufnis, beschleunigt er den Geländewagen. Die Schotterstraße steigt an, erklimmt einen Berg und wird dabei kurviger und enger. Geradeaus über einem schneebedeckten Gipfel der Mond zum Greifen nah, rechter Hand, tief unter ihnen, der See.
»Fahr langsamer.«
»Das bin ich nicht, das ist dein Gespenst.«
»Hör sofort damit auf. Ich finde das nicht witzig. Du wirst Vater, also benimm dich auch so.«
Die Worte zeigen Wirkung. Der Junge nimmt den Fuß vom Gaspedal.Als das Tier, oder was immer es ist, in einer Kurve vor ihnen auf der Schotterpiste erscheint, hat der Jeep trotzdem noch ein viel zu hohes Tempo. Atlí will ausweichen, Eis auf der Fahrbahn, ein Schlag, dann freier Fall. Immer noch spielt das Radio. Den Aufprall empfindet Fritzi als überraschend sanft. Das Bewusstsein verliert sie dennoch.
Die Musik ist aus. Das ist Fritzis erster Gedanke nach dem Aufwachen. Sie bewegt Kopf, Arme und Beine, alles gehorcht ihr noch. Nichts Kaltes fließt mehr durch ihre Adern, im Gegenteil, es ist geradezu heiß.
Sekunden später erfasst sie den Grund dafür: Sie befindet sich nicht im Auto, das lichterloh brennt, sie liegt dicht daneben am Strand. Und Atlí ebenfalls, nur ein paar Meter näher am Wasser.
Sie ruft seinen Namen.
Keine Antwort.
Auf allen vieren kriecht sie zu ihrem Sohn und sieht, dass er wach ist, aber rettungslos verloren, denn Blut läuft aus Nase, Mund und Ohren. Viel Blut. Eine Erfahrung aus Kriegszeiten: Wer aus den Ohren blutet, wird nicht wieder.
Sie schreit ihn an, er soll kämpfen, doch das liegt nicht in seiner Natur. Atlí kämpft nicht, er fleht.
In diesen Stunden erkennt Fritzi: Wenn es überhaupt einen Sinn im Leben gibt, dann ist es der, dem Tod nicht als Bettler zu begegnen, sich zu wehren, solange es irgend geht, mögen die Umstände noch so widrig sein.
Als Atlí stirbt, hat er die Hände voller Glückssteine.
Sie hätte einen werfen sollen.
Auf dem Kopenhagener Flughafen Kastrup riecht es ungesund wie an den Kassen bei Ikea: nach Hot Dogs.Alle paar Meter ein Stand, davor lange Schlangen, Reisende aus der ganzen Welt:Asiaten in Gruppen,Amerikaner, weithin zu erkennen an ihrer lärmenden Fröhlichkeit, introvertierte Nordeuropäer, Handys am Ohr – der globalisierte Hunger auf Würstchen, Röstzwiebeln und schwammartige Brotröllchen.
Und das um acht Uhr früh. Liv reiht sich ein. Ob Tönges hier ebenfalls einen Hot Dog gegessen hat? Oder hat er überhaupt nicht das Flugzeug, sondern die Fähre genommen?
Für die Weiterreise nach Reykjavík befürchtet sie Schlimmes, nachdem bereits der erste Flug von Hamburg in die dänische Hauptstadt äußerst unangenehm verlaufen ist. Man saß zusammengepfercht in einer betagten Propellermaschine, deren Motor kurz vor dem Start gleich zweimal absoff, in der Luft kein Service, dafür viel Lärm und Geschaukel. Island, das weiß sie inzwischen, hat rund dreihunderttausend Einwohner, kaum mehr als Lübeck. Die Sommersaison beginnt dort erst Ende Juni, mit Touristen ist von daher kaum zu rechnen. Wie klein und schrottreif wird also der nächste Flieger sein?
Am Flugsteig die Überraschung: Die isländische Fluggesellschaft wartet mit einem großen Jet auf, Boeing 757-300, gerade gelandet und offenbar ausgebucht, die Passagiere quellen über die Gangway in das Flughafengebäude, es sind Hunderte. Lauter junge Leute, modisch gekleidet und plappernd, ein Stakkato dunkler Laute, Liv gänzlich fremd. Dänisch? Oder haben Isländer eine eigene Sprache? Liv fühlt sich durch die eigene Unwissenheit stark eingeschränkt, wie will sie dort irgendetwas recherchieren, wenn sie von nichts einen Schimmer hat? Sie muss unbedingt den Reiseführer lesen, am besten während der drei Stunden bis zur Ankunft.
Wenig später beginnt das Boarding, und Liv nimmt als eine der Ersten ihren Sitzplatz am Fenster im hinteren Teil der Boeing ein. Ein Fehler, wie sich zeigt. Der Abflug verspätet sich, weil Passagiere, die eingecheckt haben, zunächst nicht an Bord erscheinen, erst nach etlichen Durchsagen zwängen sie sich durch den Mittelgang, beladen mit Tüten und Worte murmelnd, die ebenso gut »Verzeihung« heißen könnten wie »Pech gehabt, ihr Pünktlichkeitssklaven«. An Bord gibt es Ansagen in drei Sprachen: Englisch, Dänisch, die dritte wird dann wohl Isländisch sein.
Liv schlägt ihren Reiseführer auf und liest die Einführung. Standardisierte Floskeln: ein Land voller Gegensätze und Geheimnisse, atemberaubende Landschaften, Vulkane, Gletscher – zum Gähnen. Sie merkt, wie ihr die Augen zufallen, liest noch einen Satz über die vielerorts gefährlich dünne Erdkruste. Die letzten drei Worte nimmt sie mit in den Schlaf: »Tor zur Hölle«.
Die Flugbegleiterin weckt sie, eine ältere Dame mit dem Gehabe einer Autoritätsperson, mehr Schuldirektorin als Servicekraft.
»What do you want to drink with your lunch?«
Wieso Lunch? Liv blickt an sich hinunter, tatsächlich, das Tischchen über den Knien ist aufgeklappt, darauf ein Tablett, eingeschweißt in Silberpapier. Was bildet diese Frau sich ein? Vermittelt sie beim Schlafen etwa den Eindruck, sie wolle in Wirklichkeit essen?
Ihr Versuch, die Stewardess davon zu überzeugen, das Mittagsmahl wieder einzusammeln, scheitert. Resigniert bestellt Liv Wasser, ihr Sitznachbar zwei Fläschchen Wodka.
»Nummer zwei ist für Sie«, sagt er, nachdem die Dame mit dem Wägelchen weitergezogen ist, und tippt auf den Verschluss. »Das Essen hier ist furchtbar, glauben Sie mir, den werden Sie brauchen.« Der Mann spricht deutsch, fehlerfrei, aber mit starkemAkzent, was Liv veranlasst, sich ihn genauer anzusehen: ein kompakter Bursche, jünger als sie, höchstens dreißig, sonnengebräunt, mit kurz geschorenem, karottenfarbenem Haar und starkem Bartwuchs. Er bemerkt ihren Blick und reicht ihr die Hand: »Geir Gunnarsson.«
Er sieht also nicht nur wie ein Wikinger aus, er heißt auch so.
»Mein Name ist Liv Engel.«
»Wie wundervoll.«
Ein fester Händedruck und ein seltsames Geständnis, im Flüsterton vorgetragen, als wolle er ihr außer Schnaps noch Drogen unterjubeln: »Ich mag die Deutschen.«
Das macht ihn irgendwie verdächtig. Niemand mag die Deutschen, jedenfalls niemand, von dem man gern gemocht werden will.
»Sind Sie Nazi?«
Er lacht. »Nein, Geschäftsmann. Meine besten Gewinne mache ich mit Deutschen. Aber ihr habt ein Problem mit eurer Identität. Echt.«
Wem sagt er das. Obwohl sie es eigentlich nicht vorhatte, isst Liv ihren Lunch, hauptsächlich Kartoffelsalat, um sich den Wodka zu verdienen. Das nicht näher definierbare Stück Fleisch am Rand des schleimigen Salathaufens lässt sie allerdings nach einem Testbissen liegen. Geir Gunnarsson hat recht: Es schmeckt abscheulich.
»Sie hat es mir einfach hingestellt«, sagt Liv ein wenig fassungslos über die schlechte Qualität.
»Das ist hier so üblich. Wissen Sie, nach all den Hungersnöten in den letzten Jahrhunderten fragen wir nicht, ob jemand Appetit hat. Nehmen Sie es der Frau nicht übel.«
Der Akzent,eine Art rhythmisches Lispeln, macht es für Liv einigermaßen schwer, herauszuhören, ob der Mann sie zum Narren hält.
Sie pickt mit der Plastikgabel eine einzelne Kartoffel aus der MaJónäse. »Die Deutschen sind auch nicht immer satt geworden, besonders nach dem Krieg nicht. Wen kümmert das heute noch?«
»Isländer haben ein völlig anderes Zeitgefühl. Fünfzig Jahre fühlen sich für uns an wie fünf. Selbst fünfhundert Jahre sind ein Witz. Die Vergangenheit ist immer ganz nah.«
»Ehrlich?« Livs Interesse ist geweckt. Wenn das so ist, kann sie vielleicht davon profitieren. »Klingt spannend. Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Wovon? Von den Isländern?«
»Von den Isländern und ihrem Gespür für Zeit und Vergangenheit.«
»Ist mir eine Ehre.Aber erst anstoßen.«
Sie trinken. Nach zwei Flachmännern pro Person ist man per Du, und Geir singt sein Loblied auf die Heimat. Wie sich herausstellt, exportiert er Fisch, vor allem in die Europäische Union. Er kommt viel herum, meistens hat er unterwegs Heimweh, denn er liebt sein Land mit einer Leidenschaft, die sich ein Deutscher niemals gestatten dürfte, ohne unangenehm aufzufallen. Dabei keine Spur von Nationalismus,die Verehrung gilt in erster Linie den Naturwundern der Insel. Mit Betonung auf Wunder. Liv hat sich gelegentlich gefragt, wie es sein mag, aus einem Land zu stammen, das gemeinhin als sympathisch gilt. Geir Gunnarsson zeigt es ihr: erfrischend.
Ein begnadeter Erzähler ist er nicht gerade, das mag in seiner Muttersprache anders sein, doch einiges bleibt hängen: Laut Geir hat erst ein Vulkanausbruch auf Island die Französische Revolution ausgelöst und damit Europa ins Zeitalter der Aufklärung katapultiert. Ferner seien die isländischen Sagas Fundament der gesamten europäischen Literatur. Und der Snsefellsjökull, ein Gletscher im Südwesten, sei dank seiner magischen Kräfte für das Wetter auf dem ganzen Globus verantwortlich. Behauptet Geir. Inwieweit seine Ausführungen Ironie beinhalten, vermag Liv auch nach längerem Zuhören nicht zu beurteilen. Ein humorvoller Mensch ist er allemal.
»Ihr scheint ja äußerst bescheiden zu sein in eurem Blick auf die Welt und den Verlauf der Geschichte.Aber was hat das nun mit dem speziellen isländischen Zeitgefühl zu tun?«
»Na ja, wie lange ist zum Beispiel die Französische Revolution her? Mehr als dreihundert Jahre. In Frankreich spricht kein Mensch mehr darüber, aber für uns ist dieser Vulkanausbruch immer noch ein Riesenthema. Und die Sagas erst. Wir leben damit. Im Alltag. Verstehst du?«
»Nein. Wie lebt man im Alltag mit einer Saga?«
»Genau wie mit Elfen und Geistern.Abwechslungsreich.«
Liv lacht. »Erzähl mir nicht, du glaubst an Elfen und Geister.«
»Die Frage ist typisch für Ausländer. Sie wird mir ständig gestellt, und ich beantworte sie nie. Du wirst auch unter den jungen Leuten kaum einen Isländer finden, der dir laut und deutlich ins Gesicht sagt, er glaube nicht an Geister oder Elfen. Schon gar nicht an Bord eines isländischen Flugzeugs.«
»Komm, darauf trinken wir noch einen.« Sie winkt der Flugbegleiterin und kauft zwei weitere Wodka.Alkohol ist im Reisepreis nicht inbegriffen.
»Weißt du,was peinlich ist?«, fragt sie,nachdem sie getrunken haben. Wie sie an ihrer Aussprache merkt, sollte sie dringend auf Wasser umsteigen.
»Was?«
»Du sprichst so phantastisch deutsch, und ich wusste noch nicht einmal, dass die Isländer überhaupt eine eigene Sprache haben. Ich dachte, ihr redet wahrscheinlich dänisch dort oben.«
Geir verzieht das Gesicht, als hätte sie ihm die Faust in den Magen gerammt. »Ein schlimmer Fauxpas.«
»Ja, ja, schon klar. Tut mir aufrichtig leid. Bitte vergiss es. Ich bin bloß eine ignorante Deutsche, die Zeit ihres Lebens geglaubt hat, Schiller und Goethe hätten die Literatur erfunden und Leute wie Rousseau und Montesquieu die Französische Revolution. Ich habe die Macht der isländischen Naturwunder und der dazugehörigen Spukgestalten total unterschätzt.«
Er grinst und reibt sich die Bartstoppeln. »Aber jetzt weißt du Bescheid?«
»Jetzt weiß ich Bescheid.«
»Komm, Liv«, sagt er. »Darauf trinken wir noch einen.«
Kurz vor der Ankunft auf dem Leifur Eiríksson Flughafen in Keflavík. Liv hat den Rest von Geirs Vortrag verschlafen, und er weckt sie, damit sie den Landeanflug nicht versäumt. Keine sehr gute Idee. Es gibt Turbulenzen, die Maschine schaukelt wie ein Schiff im Sturm. Liv fühlt sich sofort seekrank und greift nach der Papiertüte in der Sitztasche – falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Sie verträgt Wodka sonst gut, auch in größeren Mengen, aber die Kombination mit dem Kartoffelsalat und dem Hot-Dog-Frühstück macht ihr zu schaffen. Als Geir ihre Unpässlichkeit bemerkt, bietet er ihr ein Pfefferminzbonbon an, das sie verschmäht. Er lässt sich nicht davon abhalten, jede zweite Sekunde aus dem Fenster zu deuten, um ihr irgendetwas zu zeigen: die Bucht von Reykjavík,die neue Autobahn vom Flughafen in die Stadt, irgendeinen See oder Gletscher mit unaussprechlichem Namen. Sie kann nichts erkennen. Was Liv sieht: schwarzes Gestein und weißes Licht, hell wie ein am Himmel festgefrorener Blitz.
Nach der Landung stürmen die isländischen Passagiere wie eine Horde Fußballfans den Duty Free Shop gleich neben der Gepäckausgabe und kaufen literweise Spirituosen. Liv marschiert schnurstracks zu den Waschräumen, wo sie sich übergibt. Danach ersteht sie eine Sonnenbrille,denn die fehlt in ihrem Gepäck. Stattdessen das verdammte Messer. Plötzlich die Sorge, es könnte bei der Einreise deswegen Probleme geben. Da Island zu den Unterzeichnern des Schengener Abkommens gehört, gibt es keinerlei Ausweiskontrollen, jeder Reisende darf seine Koffer vom Band nehmen und gehen. Fast jeder. Einige werden zur Stichprobe gewunken und müssen ihre Habseligkeiten vom Zoll durchsuchen lassen. Für den Flug Nummer FI213 von Kopenhagen fällt die Wahl auf Liv. Es mag an der Brille liegen.
Als der junge Beamte den Koffer in den Scanner schiebt, ist Liv sehr nervös. Ist es heutzutage überhaupt erlaubt, mit irgendeiner Art von Klinge zu reisen? Nicht im Handgepäck, klar, aber generell? Sie denkt an ihre Sprengberechtigung. Jeglicher Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis würde ihre Befugnis, mit explosiven Stoffen zu hantieren, automatisch aufheben. Unwiderruflich. Ein Berufsverbot. Was, zur Hölle, hat sie sich bloß dabei gedacht?
Geir Gunnarson rettet sie. So zumindest kommt es ihr vor. Wenn er etwas beherrscht, dann die Kunst, jemanden in ein Gespräch zu verwickeln. Wie durch Hypnose geraten Livs eingeführte Habseligkeiten darüber in Vergessenheit.
»Was hast du bloß in deinem Koffer versteckt, dass du so nervös warst?«, fragt er anschließend. »Deine Panik war ja schon von weitem zu riechen, schlimmer als die Alkoholfahne.«
Sehr charmant. »Bloß ein mörderisch scharfes Messer«, antwortet Liv, und seiner Miene nach zu schließen, glaubt er ihr nicht. Ein Erfahrungswert: Willst du eine Lüge verbreiten, sag die Wahrheit. Die kauft dir keiner billig ab.
Kaum haben sie das Flughafengebäude verlassen, weht es ihnen frostig entgegen. Eine vollkommen andere Art Wind, als sie von zu Hause gewohnt ist, und Liv ist bestimmt nicht zimperlich, schließlich kommt sie selbst von der Küste und war bis gestern auf Fehmarn, wo auch nicht gerade liebliches Klima herrscht. Doch dieser Wind ist neu für sie. Obschon nicht besonders stark, drei Windstärken höchstens, ritzt er die Haut auf wie scharfkantiges Papier. Sie steht da, als wäre sie nackt – in Jeans und Windjacke. Eine Brise als Waffe. Dazu diese Helligkeit und eine Landschaft wie auf einem Wüstenplaneten: dunkles Geröll,Steine und Felsen, so weit da Sauge reicht, am Horizont Berge, davor Plattenbauten in desolatem Zustand.Atemberaubende Schönheit? Wo? Am liebsten würde sie auf der Stelle umdrehen und zurückfliegen.
»Willst du eigentlich hier Urlaub machen?«, fragt Geir, der sich dicht hinter ihr hält.
Kopfschütteln. »Nein, ich suche ...«
Liv lässt den Satz unvollendet, worauf er nickt, als habe er sie genau verstanden. Zum Abschied gibt er ihr seine Visitenkarte und eine letzte Weisheit mit auf den Weg. »Dann wünsche ich dir viel Glück. Und denk dran: Island erträgt jeden.Aber nicht jeder erträgt Island.«